Home

Meine Sicht auf den Meldegesetz-Skandal

10. Juli 2012

Update: Anscheinend hat jemand in der Spiegel ONLINE Redaktion einen ähnlichen Blick auf das Thema wie ich… Obwohl es peinlich ist, dass die Presse beurteilt, wie sehr man Öffentlichkeitsarbeit machen muss, um auf einen Missstand aufmerksam zu machen, der der Presse offensichtlich entgangen ist und der im Bundesrat ohnehin zurückgeholt wird, was ja bereits am 29.6. klar war.

Update: Auch die Sueddeutsche berichtet über die Arbeitsteilung im Parlament und die resultierenden Abläufe im Plenum.

Meine Güte, kaum sind Ferien in NRW, schon stecken wir bis Oberkante Unterlippe im Sommerloch. Jeder, wirklich jeder, meint, sich zum Meldegesetz äußern zu müssen. Nun ja, dann schließe ich mich dem einmal an; man möchte ja schließlich nicht unbeteiligt daneben stehen, wenn die anderen sich so prächtig amüsieren.
Manch ein Kommentar liest sich dabei, als stünde die Welt, wie wir sie kennen, vor dem Untergang, als wäre unsere Demokratie am Ende und überhaupt – wir leben ja gar nicht in einer Demokratie, weil uns das Ganze ohnehin nur vorgespielt wird.

Aber fangen wir vorne an:

Am 16.11.2011 legt die Bundesregierung (CDU/CSU/FDP) einen Entwurf für ein neues Meldegesetz vor. Darin enthalten ist unter anderem eine Regelung für die sogenannte „einfache Melderegisterauskunft“ (§44). Diese legt fest, unter welchen Bedingungen Bürger Daten über andere Bürger von den Meldeämtern beziehen können.
Im ursprünglichen Entwurf war dabei ein sogenanntes Opt-In-Verfahren vorgesehen: Es werden keine Daten herausgegeben, ohne dass der Betroffene dem zugestimmt hat.
Am 27.6.2012 hat der zuständige Innenausschuss des Bundestags das Gesetz intensiv diskutiert und gegen die Stimmen von SPD/Grünen/Linkspartei entschieden, den umstrittenen §44 so geändert, dass aus dem Opt-In ein Opt-Out wurde. Das heißt, dass die Daten der Bürger herausgegeben werden können, wenn der Bürger nicht ausdrücklich widersprochen hat. Schlimmer noch ist, dass selbst diese Opt-Out-Regelung untergraben wurde: Falls jemand eine falsche Adresse oder einen Namen der Person hat, kann dieser Datensatz trotz eines gültigen Widerspruchs „aktualisiert“ werden. Gerade für Adresshändler ist diese Ausnahmeregelung bares Geld wert.
Am 28.6.2012 tagte schließlich der Bundestag und winkte das Gesetz mit den Stimmen von CDU/CSU/FDP und gegen die Opposition durch. Diese Sitzung fand gleichzeitig zum Halbfinalspiel der EM (Deutschland – Italien) statt und war sehr schlecht besucht. Nur 26 Parlamentarier saßen im Plenum und stimmten ohne Aussprache in nur 57 Sekunden ab.
Schon am nächsten Tag wies die SPD-Bundestagsfraktion auf die deutliche Verschlechterung des Gesetzes hin und Sigmar Gabriel fragte am 5.7. vie Twitter erneut nach, wo denn die mediale Aufmerksamkeit bliebe. Leider war die auch öffentliche Debatte zu sehr mit der EM beschäftigt und erst ein Artikel vom 6.7. im Lawblog brachte das Thema wieder ins Bewusstsein.
Mit der Entscheidung des Bundestags ist das parlamentarische Verfahren natürlich noch nicht abgeschlossen, das Gesetz noch lange nicht in Kraft. Zunächst muss im Herbst der Bundesrat zustimmen, was alleine aufgrund der anderen Mehrheitsverhältnisse (SPD-geführte Länder sind in der Überzahl) nicht wahrscheinlich ist.
Doch es kommt noch besser: Die Bundesregierung hat sich ebenso wie die Opposition mittlerweile vom Gesetz distanziert und hofft, dass der Bundesrat es ablehnen wird. Im Vermittlungsausschuss wird es sicherlich eine Rückkehr zum Opt-In-Verfahren geben. Selbst wenn dies nicht der Fall sein sollte, schreibt das Meldegesetz keine Herausgabe der Daten vor, sondern gibt lediglich die Möglichkeit, dies zu tun. Ich würde sofort einen Antrag für den Stadtrat formulieren (genau genommen habe ich das schon getan), den ich einreichen würde, falls das Meldegesetz mit einem Opt-Out-Verfahren in Kraft treten würde.

In der Sache kann man also getrost Entwarnung geben – alles Weitere ist eine demokratietheoretische oder parteipolitische Debatte.

Hier gibt es meiner Ansicht nach drei Aspekte:

1) Die Regierung ist gegen ihr eigenes Gesetz – wie peinlich!
Es wird häufig geschrieben, wie peinlich es sei, dass sich insbesondere Ilse Aigner (CSU – Verbraucherschutzministerin) jetzt vom Gesetz distanziere, wo sie es doch zu Anfang mit verfasst habe und ihre eigene Fraktion die Änderungen forciert habe. Nun ja, Frau Aigner sagt, sie habe von den Änderungen aus der Fraktion nichts gewusst und lehne sie inhaltlich ab.
Man kann jetzt behaupten, dass Frau Aigner lügt, dann ist sie eine Lügnerin und ob sie jetzt inhaltlich für oder gegen Opt-In ist, wird auf einmal zu einem sehr unbedeutenden Problem: Wer will schon eine Lügnerin als Ministerin !?!
Nehmen wir also mal an, sie sagt die Wahrheit. Man liest gerne, dass es doch Blödsinn sei, wenn sich die Regierungskoalition und die Bundesregierung so uneinig seien. Immerhin gehören sie der gleich Partei an, da dürfe es solche Streitereien um Inhalte nicht geben. Wirklich? Wer so argumentiert, muss den Fraktionszwang lieben, der abweichende Meinungen in einer Partei unterdrückt. Ich halte es eher für eine Bereicherung, wenn sich eine Fraktion unabhängig von ihrer Regierung mit einem eigenen Profil behauptet und nicht zu einem Kanzlerwahlverein verkommt.
Inhaltlich war das Meldegesetz jetzt nicht wirklich das optimale Handlungsfeld, aber grundsätzlich finde ich den Vorwurf der Peinlichkeit unangebracht. Da wäre es schon schlimmer, wenn Frau Aigner eine Lügnerin wäre.

2) Die faulen MdBs sind ja eh nie im Parlament!
Was mich an dieser Debatte stört, ist, dass „Anwesenheit im Plenum des Bundestags“ mit „Politischer Arbeit“ gleichgesetzt wird. Dieses große Aufheben um die Anwesenheit im Bundestag ist meiner Meinung nach falsch und wird den 80 Stunden-Wochen der Abgeordneten nicht gerecht, die nur einen Bruchteil ihrer Zeit wirklich im Parlament sitzen. Zu Ihren Aufgaben gehören inhaltliche Recherche, Vorbereitung von Gesetzesvorhaben, Diskussionen im Wahlkreis, Behandlung von Bürgerinteressen, Gespräche mit Journalisten usw.. Für mich ist dabei der wichtigste Punkt, dass sie sich um ihren Wahlkreis kümmern und möglichst häufig „vor Ort“ sind, um die Bedürfnisse zu erfragen und sich zu „erden“. Nur so kann man sich vor den Lobbyisten in Berlin schützen, die beruflich Einfluss auf Abgeordnete nehmen (was natürlich legal, aber nur begrenzt legitim ist).
Es ist üblich, dass sowohl der Austausch von Argumenten zu einem Gesetzesvorhaben als auch die inhaltliche Beratung im (nicht-öffentlichen) Fachausschuss des Bundestags stattfinden. Das Bundestagsplenum als ein Teil der Institution „Bundestag“ ist dabei in der Praxis eher unwichtig.
Hier werden im wesentlichen Fensterreden gehalten, nachdem die inhaltlichen Positionen bereits festgelegt sind. Was bringt dieses Verfahren für einen Mehrwert? Schaufensterreden stören mehr als sie helfen, und ob vier Abgeordnete stellvertretend für die ganze Fraktion die Hand heben oder 146, ist mir persönlich erstmal egal, solange ich weiß, was meine Abgeordnete über das Gesetz denkt und wie meine Partei sich verhalten hat.

Die Frage wäre also viel eher: Warum sind die Debatten in den Gremien nicht wirklich ergebnisoffen? Kann man das ändern? Will man das ändern?

Ich sehe beobachte Ähnliches im Stadtrat: Wir haben die meisten Punkte bereits in den Ausschüssen beraten, und dort wird auch in der Sache diskutiert. Im Rat werden die Punkte dann oft ohne Aussprache durchgewunken, weil keiner etwas davon hat, wenn man noch ein drittes Mal sagt, dass man dagegen/dafür/für eine andere Lösung ist.
Schlussendlich ist mir eine zusätzliche Bürgersprechstunde oder eine Stunde Einlesen in eine Thematik lieber als eine Stunde Anwesenheit im Stadtrat. Bei einer 60-80 Stundenwoche muss man eben Prioritäten setzen, und ich glaube, dass eine gute Bürgersprechstunde, eine Ortsbegehung oder das eigenhändige Beantworten von Bürergemails besser angelegte Zeit ist als das Absitzen von Stunden im Plenum.

Hinzu kommt, dass sich die Abgeordneten inhaltlich spezialisieren müssen. Ohne ein konkretes Aufgabenfeld kann man zwar überall mitreden, an der tiefgehenden praktischen Arbeit kann man sich aber nicht beteiligen. Diese Spezialisierung führt im üblichen täglichen Sitzungsbetrieb zu einem ständigen „Bäumchen-wechsel-Dich“-Spiel im Plenum: Ist ein Themenblock abgearbeitet, verschwinden die einen Fachpolitiker in ihren Büros und die anderen kommen ins Plenum. Auch diese Spezialisierung reduziert die durchschnittliche Anwesenheitszeit: Es hilft einfach nicht, wenn der Bundeswehrexperte hinten seine Zeit im Plenum absitzt, wenn es um das Meldegesetz geht.
Nun gut, im konkreten Fall ging es wohl eher um das Halbfinale Deutschland – Italien, aber auch das finde ich nachvollziehbar: Ich habe auch Fußball geschaut und kann verstehen, dass am Ende noch weniger MdBs anwesend waren als sonst üblich.

3) Die Opposition hätte doch die Beschlussunfähigkeit feststellen können!
„Es waren doch nur 26 Abgeordnete anwesend, wenn jetzt SPD, Grüne und Linke so tun, als ob sie schon immer gegen das Gesetz gewesen wären. Das ist scheinheilig!“. Ist es das? Ich bin mir sicher, dass die Fraktionen, die von Anfang an gegen das Gesetz in seiner jetzigen Form gearbeitet haben, auch dagegen sind. Die Frage ist nur, welche Mittel man anwendet, wenn man sich ohnehin sicher ist, dass das Gesetz im Bundesrat gestoppt wird.

Zwei „Instrumente“ werden genannt, die die Opposition hätte nutzen „müssen, wenn es ihr ernst gewesen“ sei mit dem Kampf gegen das Meldegesetz: Anzweiflung der Beschlussfähigkeit und die Organisation einer Mehrheit durch Herbeirufen zusätzlicher MdBs.

Sicherlich ist beides legal, aber es konterkarriert den oben beschriebenen Arbeitsalltag im Parlament. Darüber hinaus gibt es genau für diese Fälle „Bereitschaftsdienste“ in den Fraktionen. Im Ergebnis hätte es also so oder so eine 20-minütige Sitzungsunterbrechung, wildes Telefonieren und Herbeieilen aus den Büros (, den Kneipen und vom Public Viewing) gegeben. Die tägliche Arbeit des Parlaments kann man mit so etwas lahmlegen, inhaltlich hätte das trotzdem nichts geändert. Gefühlte 70% der Beschlüsse im Bundestag werden von weniger als der vorgeschriebenen Anzahl an Abgeordneten gefällt, damit die anderen inhaltlich arbeiten können, statt daneben zu sitzen und bei Bedarf die Hand zu heben.
Dieses Prozedere wird von den sogenannten parlamentarischen Geschäftsführern organisiert und erleichtert die Abläufe, ohne inhaltlich die Beschlüsse zu verzerren.
Auf kommunaler Ebene gibt es vergleichbar das Pairing, das die Mehrheitsverhältnisse sichert, falls jemand fehlt.
Wenn man diese Konzessionen an die politische Praxistauglichkeit abschafft, dann sitzen zwar mehr Menschen da, aber der Eindruck wird verhehrend, wenn diese dann Sudoku spielen oder vor der Tür stehen und telefonieren.
Der Punkt, auf dem diese ganze Praxis fußt, ist einfach: Die Beschlussunfähigkeit wird nicht festgestellt, und das Gremium kann arbeiten.

Ich finde diese Prozeduren nicht gut, aber sie sind auch nicht unser wirkliches Problem. Das liegt vielmehr im vorzeitigen Feststehen der Debattenergebnisse. Wenn schon vor der Bundestagsdebatte klar ist, wie die Fraktionen abstimmen, kann man die Reden in der Tat auch zu Protokoll geben. Hier stoßen also Demokratietheorie und praktische Umsetzung aneinander. Das Problem mit dem Meldegesetz hat damit aber wirklich nichts zu tun und der Opposition vorzuwerfen, sie meine es nicht ernst, weil sie weder eine Zufallsmehrheit herbeigeführt noch die fehlenden Abgeordneten aus den Büros (, den Kneipen und vom Public Viewing) herbeizitieren ließ, ist meiner Ansicht nach nicht angemessen.

Mein Fazit:
Das einzig wichtige an der Debatte ist, dass es am Ende vermutlich ein Opt-In-Verfahren geben wird, alles andere ist herrliches Sommerlochgeschreibsel und geht absolut am Kern des Problems vorbei: Der fehlenden Ergebnisoffenheit in den Plenarsitzungen und der Nicht-Öffentlichkeit von Ausschussitzungen.

Themen: Landes-, Bundes- und Europapolitik