UPDATE: Hier der Mitschnitt des Berichts bei Antenne AC.
Aachener Nachrichten – Testlauf mit Stock und Rollator
SPD erkundet bei Rundgang die Barrieren und Stolperfallen in der Stadt. Alterssimulationsanzug vermittelt einen Eindruck von vielfältigen Behinderungen. „Es geht darum, die Politik zu sensibilisieren“.
Michael Servos braucht etwa fünf Minuten, um seinen Parteifreund Michael Schulz ganz alt aussehen zu lassen. Zuerst ist es nur eine Latzhose mit Gewichten, dann werden die Gelenke mit festen Bandagen versteift und der Kopf mit einer dicken Halskrause etwas unbeweglicher gemacht. Und als Schulz zum Schluss noch ein Gehörschutz über die Ohren gestülpt und eine präparierte Brille auf die Nase gesetzt bekommt, kann er die Einschränkungen von alten Menschen am eigenen Leib sehr gut nachvollziehen.
Und genau das sollte die Politik eben auch, meint man im „Facharbeitskreis Mobilität“ der SPD-Fraktion. Deshalb unternahmen die Sozialdemokraten gestern einen Rundgang der etwas anderen Art. Gemeinsam mit Blinden und Sehbehinderten, mit Rollstühlen, Rollatoren und eben Michael Schulz in seinem „Alterssimulationsanzug“ zog die Gruppe vom Hauptbahnhof in die Innenstadt. „Es geht darum, die Politik zu sensibilieren“, so der mobilitätspolitische Sprecher Michael Servos. „Wir müssen mal ein Gefühl dafür bekommen, worüber wir da reden.“ Über den Unterschied von Leitstreifen und Aufmerksamkeitsfeldern für Blinde zum Beispiel, den Jörg-Michael Sachse-Schüler vom Verein Pro Retina auf Bahnsteig 3 im Hauptbahnhof erklärt. Mit seinem Stock kann er den Weg dorthin zwar ertasten, doch kurz vor der Bahnsteigkante wird das System missverständlich. „Bei einem Aufmerksamkeitsfeld müssen die Platten keine Rillen haben, sondern Noppen“, erläuterte er, „damit Blinden signalisiert wird, dass jetzt etwas kommt.“ Auch vor der nach unten führenden Treppe fehlt ein solcher Hinweis für den Tast-Stock. „Das ist grundfalsch“, bemängelt Caline Strack vom Sozialverband VdK.
Der Weg zum Gleis hat dem künstlich gealterten Michael Schulz schon erste Schweißperlen auf die Stirn getrieben. „Die Gewichte spürt man“, berichtet er, „aber das Sehen mit dieser Brille fällt besonders schwer.“ Scharfe Konturen seien damit nicht zu erkennen, „eher nur hell und dunkel“. Wer nicht gut sieht, dürfte wohl auch auf dem Vorplatz des Hauptbahnhofs Probleme haben. Sachse-Schüler vermisst hier ein „Leitsystem, das auf die Ampel zuführt“. Ohne eine solche Orientierungshilfe hätten es vor allem auswärtige Aachen-Besucher schwer, „für Ortskundige geht es“.
Blockaden auf dem Gehweg
Das beweist gerade Paul Schürmann vom Blinden- und Sehbehindertenverein, der mit seinem Hund Festus routiniert den Vorplatz überquert und auf die Fußgängerampel an der Römerstraße zusteuert. Finden kann er sie dank des Tonsignals, sein Stock ertastet die Noppen an der Stelle, an der er anhalten muss. Die anderen warten an der Ampel auf Grün, Schürmann wartet auf eine veränderte Tonfolge, die ihm die freie Bahn signalisiert. Auf der anderen Straßenseite geht es für ihn dann „immer an der Wand lang“ in Richtung Leydelstraße und die dann abwärts zum Marienplatz.
Bis dahin hatte Arno Krott mit dem Rollator keine Probleme, aber die fangen jetzt an. „Der Gehweg ist eine Tortur“, befindet der Sozialdemokrat, nachdem er die zu Testzwecken mitgeführte Gehhilfe zwischen Laternenpfählen, Schaltkästen und Verkehrsschilder hindurchbugsiert hat. Und abgesenkte Bordsteinkanten fehlen ihm hier auch. „Ist in Arbeit“, verspricht Regina Poth, die Abteilungsleiterin Straßenbau beim städtischen Fachbereich Stadtentwicklung und Verkehrsanlagen. Dann schnappt sie sich den Rollator, damit Krott seinem Parteifreund Schulz auf der Freitreppe am AM-Neubau helfen kann.
Auf die Rampe traut der sich nicht, weil Stufen und Höhenunterschiede für ihn kaum zu erkennen sind. Die Rampe sei ein Gewinn für Leute, die einen Rollator oder einen Kinderwagen schieben, meint Regina Poth, auch manche Rollstuhlfahrer könnten so die acht Meter Höhenunterschied zwischen Aureliusstraße und Borngasse bewältigen. Aber Alterssimulant Schulz schlurft lieber vorsichtig an der Seite entlang, wo es ein Geländer gibt. Am Ende hat der 60-Jährige das Gefühl, „deutlich mehr Jahre“ auf dem Buckel zu haben. Bei künftigen Diskussioen zur Mobilität kann er jetzt ganz anders mitreden.
Aachener Zeitung – Hürden für Behinderte sollen in der City fallen
SPD prüft gemeinsam mit Betroffenen das Aachener Blindenleitsystem. Simulations-Anzüge, Rollatoren und Sitzwagen machen körperliche Einschränkungen erfahrbar. Fazit: Auf gutem Weg, aber es gibt noch Probleme.
Mit Hilfe seines Blindenstocks tastet sich Jörg-Michael Sachse-Schüler an den Leitlinien des Bahnhofsgebäudes entlang. Sachse-Schüler ist stellvertretender Leiter von Pro Retina Deutschland, der Selbsthilfevereinigung von Menschen mit Netzhautdegenerationen. Er hat sich der Gruppe angeschlossen, die am Stadtrundgang mit Michael Servos, dem mobilitätspolitischen Sprecher der SPD, teilnimmt. Der Facharbeitskreis „Mobilität“ der Fraktion, der die Barrierefreiheit zum Schwerpunktthema erklärt hatte, will die Politik zum Ende des Jahres noch einmal für sein Anliegen sensibilisieren. „Wir wollen die Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, in den Fokus rücken“, sagt Servos.
Auch für Menschen ohne Behinderung sollen die alltäglichen Hürden erfahrbar werden. Deshalb hat Servos Alterssimulations-Anzüge, Rollatoren und Sitzwagen mit im Gepäck. Auch Michael Schulz lässt sich Bandagen mit Gewichten um Knie, Füße und Arme legen. „Ich fühle mich 30 Jahre älter, das ist schon gewöhnungsbedürftig“, sagt er, während er sich langsam in Richtung Bahngleis bewegt, die erste Station des Rundgangs.
Kritik am Bahnhofsvorplatz
Oben angekommen, stellt Sachse-Schüler ein erstes Problem fest. An den Stellen des Leitsystems, an denen man sich für links oder rechts entscheiden muss, müsse der Blindenstock eigentlich auf Noppen, nicht auf Rillen treffen – „damit man weiß, dass man an dieser Stelle aufmerksam sein muss.“ Insgesamt aber ist er mit der Situation am Bahnhof zufrieden. Mehr Kritik übt er an der Situation am Bahnhofsvorplatz.
Dort führt das Leitsystem auf eine glatte Fläche. „Es fehlt eine Linie, die direkt zur Ampel leitet, vor allem für die Ortsunkundigen.“ Dieses Problem ist auch Servos bewusst. „Das hätten die Politiker bei der Planung im Auge haben müssen“, gesteht er. „Das Ganze ist ein schweres Thema, auch weil es zwischen den Menschen mit Behinderung widerstreitende Interessen gibt.“
Umstrittene Freitreppe
Die Menschen mit Sehbehinderung wünschen sich eine Kante am Bordstein, damit sie die Grenze zur Fahrbahn erkennen. Die Menschen mit Gehbehinderung wünschen sich eine Absenkung des Bordsteins. Zum Beispiel Caline Strack, Sprecherin der Kommission „Barrierefreies Bauen“. „Deshalb sind wir für geteilte Überwege“, erklärt sie den Kompromissvorschlag.
Weiter geht es zur umstrittenen Freitreppe zwischen Borngasse und Aureliusstraße. Der Weg dorthin stellt eine weitere Schwierigkeit dar. Für die Rollatoren ist der Bürgersteig zu schmal. Und am Marienplatz gibt es keine Absenkung des Bordsteins. „Eine Verbesserung der Überquerung ist in Planung, aber noch nicht beschlossen“, erklärt Regina Poth, Abteilungsleiterin Straßenbau.
Knifflig ist die Farbgebung der Freitreppe: Dort, wo zwei schwarze Stufen aufeinander folgen, erkennt der Blindenhund bislang nur eine einzige Stufe und bleibt irritiert stehen. Deshalb sollen Kontraststreifen angebracht werden. „Eine Vielzahl an Hürden gibt es noch, aber Aachen ist auf einem guten Weg“, sagt Sachse-Schüler.
„Wir wollen die Menschen, die in ihrer Mobilität ein- geschränkt sind, in den Fokus rücken.“
Michael Servos, SPD
„Eine Vielzahl an Hürden gibt es noch, aber Aachen ist auf einem guten Weg.“
Jörg-Michael Sachse-Schüler, Pro Retina